Als der Augustinermönch Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Türe der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, wollte er lediglich zu einer Diskussion unter Gelehrten über die Rechtmäßigkeit des Verkaufs von „Ablassbriefen“ aufrufen. Die Diskussion fand nie statt – statt einer Reformation der „katholischen Kirche“ bewirkte er „die Reformation“, die Gründung der Evangelischen Kirche. 500 Jahre später wurde wieder diskutiert – diesmal in der Stephanuskirche im Giebel in einem gemeinsamen Festgottesdienst der Weilimdorfer Evangelischen Gesamtkirchengemeinde.
Pfarrerin Erika Schlatter-Ernst, Pfarrerin Annegret Oette und Pfarrer Hartmut Häcker nutzten statt der Kirchentüre allerdings lieber eine beschreibbare Magnettafelwand, um die Thesen Luthers – und einige von Oette aufgestellte neue Thesen „anzuschlagen“. In ihrem theologischen „Streitgespräch“ zeigten Schlatter-Ernst, Oette und Häcker auf, dass man zwar das Reformationsfest feiern kann, stolz sein kann auf das durch – und nach – Luther erreichte (wie z.B. die Übersetzung der Bibel ins Deutsche oder auch die grundlegende Gleichberechtigung durch das Priestertum aller Getauften), aber auch dass 2017 eben nicht 1517 sei. Als neue Thesen kamen so „Vielfalt muss sein“, „Entspannung für Frauen!“, „die eigenen Fehler sehen“, „Verantwortung ist die Schwester der Freiheit“ und „Selber denken erwünscht!“ hinzu.
Dass allerdings z.B. die Kernforderung von Luther – dass Frauen und Männer auf gleicher Stufe stehen, hat in Württemberg sehr lange gebraucht sich durchzusetzen: in 2018 wird „50 Jahre Frauenordination“ gefeiert. Auch das „sehen der eigenen Fehler“ ist in Zeiten von Klimawandel ein schwieriges Unterfangen – und der „Sünder“, wie man ihn aus der Bibel kennt, wurde im Heute auf „Verkehrssünder“ und die „Kalorien in der Sahnetorte“ reduziert. Die gesellschaftliche Entwicklung im Jahr 2017 offenbart jedoch, dass „Verantwortung für den Nächsten“ die Verantwortung für den Erhalt der gemeinsamen Lebensgrundlagen einschließt: „Die persönliche Freiheit darf nicht auf Kosten anderer gelebt werden“.
Um eine altbekannte und unverändert aktuelle These kam und kommt allerdings niemand herum – „Bibel lesen!“. So stellte Häcker fest: „Wenn es stimmt, dass die Kraft eines Baumes nicht in seinen Zweigen, sondern in seinen Wurzeln steckt: dann lass uns mehr Bibel lesen! Wurzeln pflegen.“
Ein besonderes Grußwort zum Reformationsfest waren die Gedanken von Pfarrer Matthias Hambücher von der Katholischen Gesamtkirchengemeinde Stuttgart-Nordwest, zu der auch Weilimdorfs Gemeinden Salvator und St. Theresia gehören. Hambücher betonte, dass die Katholiken in Weilimdorf, Wolfbusch, Bergheim, Hausen und Giebel gerne das Jubiläum der Reformation mitfeiern: „Groß ist die Freude darüber, dass uns diese schmerzliche Erinnerung nicht mehr trennt – die Freude, was in den Kirchen der Reformation gewachsen ist.“ Die Ökumene ist ein unverzichtbarer Bestandteil geworden – dies vor allem in Weilimdorf, was viele Aktionen und Angebote zeugen, wie z.B. der Kanzeltausch, Schulgottesdienste, das Rot-Kreuz-Fest im Giebel, der gemeinsame Gottesdienst zum Weihnachtsmarkt und viele unzählige weitere Angebote. Hambücher rief dazu auf, angesichts der Tatsache, dass die Gesellschaft sich in den Stadtteilen immer multireligiöser zusammensetzt, dass die ökumenische Zusammenarbeit sich ausweiten kann und muss: „Unsere gemeinsame Geschichte mit Scheitern und Gelingen im Zusammenleben der Religionen ist unser Erfahrungsschatz, den wir einbringen können und müssen!“.
Musikalisch umrahmt wurde der Festgottesdienst vom gemeinsamen Chor der Gemeinden Dietrich-Bonhoeffer, Oswald-Wolfbusch und Stephanus unter den Dirigenten Irena Rafailoviene, Konstanze Miehlich-Fuhr und Tobias Weierberger mit Stücken von Johann Sebastian Bach, George Rathbone, Christopher Tambling und Felix Mendelssohn-Bartholdy. Die Orgel spielte Bezirkskantor Alexander Kuhlo. im Anschluss an den Gottesdienst gab es im Gemeindesaal der Stephanuskirche bei einem Ständerling viel Gelegenheit gemeinsam über die Thesen von früher und heute zu diskutieren.
Text/Fotos: Hans-Martin Goede